Instruktiv stellt das Hanseatische Oberlandesgericht in einer Entscheidung vom 20.02.2018, 2 W 63/17, die rechtlichen Rahmenbedingungen der Testierfähigkeit und einer entsprechenden Prüfung (konkretisiert auf die Grunderkrankung einer Demenz) dar.
„Testierunfähig ist – verkürzt ausgedrückt -, wer nicht in der Lage ist, sich über die für und gegen die sittliche Berechtigung einer letztwilligen Verfügung sprechenden Gründe ein klares, von krankhaften Einflüssen nicht gestörtes Urteil zu bilden und nach diesem Urteil frei von Einflüssen etwaiger interessierter Dritte zu handeln (ständige Rechtsprechung, Nachweise etwa bei OLG München, FGPrax 2007, 274, 276).
(…)
Zutreffend sind das Nachlassgericht und der Sachverständige weiter davon ausgegangen, dass eine geistige Erkrankung der Gültigkeit einer letztwilligen Verfügung nicht entgegensteht, wenn diese von der Erkrankung unbeeinflusst ist und dass es letztlich um die Feststellung geht, ob die letztwillige Verfügung frei von krankheitsbedingten Störungen zustande gekommen ist (Herzog, ZErb 2016, 34, 38, Nw. in Fn. 69; BayObLG FamRZ 2002,1066). Die Feststellung der Testierunfähigkeit verlangt nicht nur den Befund einer Geisteskrankheit oder Geistesschwäche, sondern darüber hinaus die konkrete Feststellung, dass diese Auswirkung auf die Einsichts- und Willensbildungsfähigkeit des Erblassers hatte. Nach ganz allgemeiner Ansicht ist zwar ein medizinischer Befund notwendige Voraussetzung. Er allein genügt jedoch nicht zur Feststellung der Testierunfähigkeit.
c) Vor dem Hintergrund des Regel-Ausnahmeprinzips entspricht es der herrschenden Meinung, dass die Beweisaufnahme zur Testierunfähigkeit in einem ersten Schritt an der Feststellung auffälliger Verhaltensweisen des Erblassers anzusetzen hat. Die Begutachtung der Testierfähigkeit setzt voraus, dass der zu begutachtende Sachverhalt – die sogenannten Anknüpfungstatsachen – vom Gericht selbst ermittelt wird. Das Gericht hat die Anknüpfungstatsachen selbst festzustellen und dem Sachverständigen als Grundlage seiner gutachterlichen Äußerung vorzugeben (BayObLG, FamRZ 2002, 1066, 1068, OLG Frankfurt, NJW-RR 1998, 870, 871; vgl. auch die Darstellung bei Frieser/Potthast, ErbR 2017, 114, 119 ff, 122). Dementsprechend ist das Nachlassgericht vorgegangen.
Notwendiger Gegenstand der Ermittlungen sind die Auswirkungen des medizinischen Befundes auf die Symptom- und Verhaltensebene beim Erblasser. Durch Gericht und Sachverständigen muss im Einzelfall untersucht werden, ob die festgestellten Zustände und Krankheiten die Einsichts- und Handlungsfähigkeit des Erblassers im konkreten Fall ausgeschlossen haben. Zu prüfen sind dabei die Auswirkungen auf die kognitiven Funktionen, auf Persönlichkeit und Wertegefühl, wobei sich die Beeinträchtigungen auf den für das Testat relevanten Sachverhalt erstrecken müssen. Von Bedeutung sind insbesondere die Fähigkeit, bestimmte Sachverhalte aufzufassen und zu verstehen, Informationen rational und emotional zu verarbeiten, den Sachverhalt angemessen zu bewerten und sodann auf dieser Grundlage den eigenen Willen zu bestimmen, zu äußern und danach zu handeln. Sodann geht es um die Fähigkeit, sich ein Urteil über mehrere Alternativen zu bilden und frei zwischen diesen zu entscheiden.
In Bezug auf Demenzen hat Cording (ZEV 2010, 115, 116) ausdrücklich und zutreffend hervorgehoben: Wenn verbreitet angenommen werde, dass nur ab einer mindestens mittelschweren Demenzen Testierunfähigkeit anzunehmen sei, dann aber stets, so handele es sich um ein Missverständnis. Das könne zwar als grobe Faustregel gelten, besage aber nichts über die tatsächlichen maßgeblichen Verhältnisse. Es komme eben nicht auf die auf die Diagnose bezogenen allgemeinen Schweregrade an, sondern letztlich immer auf die individuelle Psychopathologie in Bezug auf das konkrete Rechtsgeschäft (sogenannte Beurteilungsebene).
Auch das BayObLG hat hervorgehoben, dass es auf die konkreten Verhaltensweisen des Erblassers für die Beurteilung der Testierfähigkeit mehr ankommt als auf den genauen hirnorganischen Befund (FamRZ 2002, 1066, 1068; vgl auch OLG München, FGPrax 2007, 274, 276).
d) Bei chronischen bzw. chronisch-progredienten Störungen – wie dem dementiellen Syndrom – richtet sich die Beurteilung der Testierunfähigkeit nach den im fraglichen Zeitraum vorhandenen Dauerveränderungen (insbesondere der Urteilsfähigkeit), die von den sich gegebenenfalls überlagernden Zusatzsymptomen abzugrenzen sind (Cording, ZEV 2010, 115, 120).
Nicht zu verkennen ist, dass demzufolge die sogenannte retrograde Extrapolation als besonders schwierig zu gelten hat. Gleichwohl ist es einem Sachverständigen möglich, den Zustand zum relevanten Zeitpunkt (Testamentserrichtung) anhand von davor und danach dokumentierten Befunden bzw. Verhaltensbeobachtungen interpolierend zu erschließen, zwar nicht im Sinne einer mathematischen, wohl aber im Sinne einer logischen Interpolation (Cording, ZEV 2010, 115, 120).
Dabei ist zwischen drei Verlaufstypen zu unterscheiden: Kurz dauernde oder fluktuierende psychische Störungen, länger anhaltende, aber typischerweise spontan oder unter Therapie abklingende Erkrankungen und chronische bzw. chronisch-progrediente Störungen, wozu dementielle Syndrome gehören. In ganz klaren Fällen eines belegten langsam-stetig-progredienten Verlaufs (z.B. charakteristische Demenz vom Alzheimertyp) kann im Einzelfall mit hinreichender Sicherheit auf einen Zeitpunkt extrapoliert werden, der Tage bis einige Wochen vor dem Beginn des dokumentierten Krankheitsabschnitts liegt.
Nach der überzeugenden Darstellung von Cording (a.a.O.) ist es möglich, den Zustand zum relevanten Zeitpunkt (Testamentserrichtung) aus davor und danach dokumentierten Befunden bzw. Verhaltensbeobachtungen abzuleiten, wenn kumulativ folgende Voraussetzungen vorliegen:
– Für mindestens einen Zeitpunkt vor und mindestens einen Zeitpunkt nach der fraglichen Testamentserrichtung müssen krankheitswertige Zustände belegt sein, bei denen die Voraussetzungen für eine freie Willensbildung nicht mehr gegeben waren.
– Und der Verlauf der zugrundeliegenden Krankheit muss im individuell zu begutachtenden Fall jedenfalls in diesem Krankheitsabschnitt konstant oder progredient gewesen sein, wobei eventuelle Schwankungen unerheblich sind, solange sie nicht die Schwelle rechtserheblicher Besserungen überschreiten.“
Beachtenswert ist daneben, dass es insgesamt keine weitreichende Rechtsprechungsentwicklung gibt. Der Rechtsprechungsstand ist über viele Jahre in weiten Teilen stagnierend.